Bilaterale Verträge: Was ist damit gemeint? (Definition, Erklärung)

Das Wichtigste in Kürze

• Verträge zwischen Schweiz und EU zur Markt- und Personenfreizügigkeit

• zentral für Arbeit, Gesundheitsversorgung und Versicherungskoordination

• regeln Anerkennung von Sozialversicherungszeiten

• erleichtern medizinische Behandlung im EU-Raum

• schützen Rechte von Grenzgängern und Arbeitnehmenden

• sichern gegenseitige wirtschaftliche Zusammenarbeit

• im Schweizer Gesundheitswesen unverzichtbar

Zahlen & Fakten

1. Die Bilateralen I (2002) umfassen 7 Abkommen, darunter Personenfreizügigkeit und Sozialversicherungskoordination [1].
2. Über 1,4 Millionen EU-Bürger leben und arbeiten dank bilateralen Regelungen in der Schweiz [2].
3. Rund 380’000 Grenzgänger arbeiten in der Schweiz – abgesichert durch bilaterale Regelungen [3].
4. Jährlich über 100’000 medizinische Behandlungen im EU-Ausland durch Schweizer Versicherte dank bilateraler Absicherung [4].
5. Die Schweiz exportiert Waren im Wert von über 120 Milliarden CHF jährlich in die EU – über 60 % aller Exporte [1].
6. Die bilateralen Sozialversicherungsabkommen koordinieren über 10 Millionen Versicherungsjahre pro Jahr zwischen Behörden [3].
7. Etwa 65 % der Schweizer Stimmbevölkerung befürwortet die bilateralen Verträge als wirtschaftlich zentral (Umfrage 2023) [4].

Wie die bilateralen Verträge funktionieren

Die bilateralen Verträge bestehen aus zwei grossen Paketen:

• Bilaterale I (2002): Fokus auf Personenfreizügigkeit, Forschung, Luftverkehr, Transport usw.
• Bilaterale II (2004 ff.): Fokus auf Schengen/Dublin, Steuerfragen, Umwelt, Sicherheit.

Für das Gesundheits- und Versicherungswesen ist insbesondere das Abkommen über die Freizügigkeit und Sozialversicherungskoordination relevant.

Wichtige Bereiche für das Gesundheitswesen

1. Personenfreizügigkeit

• freie Wahl des Arbeitsplatzes innerhalb EU/Schweiz
• Anerkennung beruflicher Qualifikationen
• erleichterte Anstellung im Gesundheitswesen

2. Sozialversicherungskoordination

• Vermeidung von Doppelversicherungen
• Koordination von AHV (Alters- und Hinterlassenenversicherung) und IV (Invalidenversicherung)
• Anrechnung von Versicherungszeiten im Ausland
• Schutz für Grenzgänger (z. B. BVG, UVG, ALV)

3. Krankenversicherung (KVG)

• Schweizer Versicherte erhalten im EU-Raum medizinische Leistungen zu lokalen Bedingungen
• mittels europäischer Krankenversicherungskarte (EHIC)

4. Grenzgängerregelungen

• klare Steuer- und Versicherungszuständigkeit
• Wahlrecht bei Krankenversicherung für Deutsche und Franzosen

Wie Kosten und Leistungen berechnet werden

1. Anrechnung von Versicherungszeiten

Wenn eine Person in mehreren EU-/EFTA-Ländern gearbeitet hat, werden die Beitragsjahre zusammengerechnet.

Beispiel:
10 Jahre AHV Schweiz
15 Jahre deutsche Rentenversicherung
→ Total 25 Versicherungsjahre
Die Renten werden anteilig bezahlt:

Schweiz zahlt für 10/25

Deutschland für 15/25

2. Behandlungskosten im Ausland

Beispiel:
Schweizerin wird in Italien medizinisch behandelt:

• Kosten: 400 CHF
  Die italienische Krankenkasse deckt Behandlung gemäss lokalem Tarif:
• Übernahme: 300 CHF
• Patientin zahlt lokalen Selbstbehalt (z. B. 100 CHF)

Wichtig:
Schweizer Franchise und Selbstbehalt gelten nicht, es gelten die lokalen Regeln.

3. Grenzgänger – Krankenversicherung

Beispiel Grenzgänger CH-DE:
Schweizer Arbeitgeber
Lohn: 5’800 CHF

Person wählt deutsche GKV:
Beitragssatz ca. 15 % des deutschen Einkommens
→ Kassenbeitrag basiert nicht auf Schweizer Lohn
→ Beitrag z. B. 250 €/Monat (je nach Kasse)

Wäre die Person im KVG geblieben:
→ ca. 330 CHF/Monat

Praxisbeispiele

Beispiel 1: Grenzgänger profitiert von bilateralen Sozialversicherungsregeln

Ein 48-jähriger französischer Pflegefachmann arbeitet seit 12 Jahren im Kanton Waadt, wohnt in Frankreich.
Durch die bilateralen Verträge ist klar geregelt:

• Sozialversicherungspflicht in der Schweiz
• Krankenversicherung in Frankreich dank Optionsrecht
• Rentenansprüche später anteilig aus beiden Ländern

Lohn: 6’200 CHF
AHV-Beitrag: 5,3 % → 328.60 CHF
Dieser Beitrag wird voll angerechnet.

Später (nach 30 Arbeitsjahren in CH und FR):
Schweiz zahlt Rente anteilig für 12 Jahre, Frankreich für 18 Jahre.
Ohne Bilaterale müsste er Doppelbeiträge zahlen oder hätte Rentenlücken.

Beispiel 2: Schweizerin nutzt medizinische Behandlung im EU-Ausland

Eine 62-jährige Schweizerin macht Urlaub in Spanien und erleidet eine akute Erkrankung.

Kosten im Spital: 650 CHF
Spanische Krankenversicherung übernimmt: 550 CHF
Eigenanteil lokal: 100 CHF

Dank bilateraler Verträge:

• sofortige Behandlung
• keine Vorauszahlung der gesamten Kosten
• Abrechnung direkt zwischen spanischem Versicherer und KVG

Wäre sie ausserhalb EU/EFTA:
→ KVG würde nur bis Kosten in der Schweiz zahlen
→ Eigenkosten möglicherweise > 300 CHF

Bedeutung der bilateralen Verträge für die Schweiz

1. Wirtschaftliche Stabilität

Über 60 % aller Schweizer Exporte gehen in die EU – ohne bilaterale Verträge wären Zölle, Barrieren und Verzögerungen die Folge.

2. Gesundheitsversorgung

EU-Bürger können in der Schweiz arbeiten, wodurch:

• 20–30 % des Pflegepersonals
• ein grosser Teil des IT- und Gesundheitsfachpersonals
  abgedeckt wird.

3. Sozialversicherungskoordination

Die Verträge verhindern:

• Beitragslücken
• Doppelversicherungen
• administrative Hürden
  Sie schaffen Rechtssicherheit für Grenzgängerinnen, Rentner und Pendler.

4. Reisefreiheit und Sicherheit

Dank Schengen:

• keine Grenzkontrollen
• verbesserte Polizeizusammenarbeit
• medizinische Notfallversorgung im Ausland deutlich einfacher

Weitere wichtige Aspekte

1. Zusammenhang mit AHV, IV und EO

Durch die bilateralen Verträge:

• können AHV- und IV-Beiträge im Ausland angerechnet werden
• wird Invalidität international koordiniert
• bleiben Leistungen im EU-Raum exportierbar

Die EO (Erwerbsersatzordnung) spielt hingegen nur eine nationale Rolle (Mutterschaft, Militärdienst), ist aber durch bilaterale Abkommen hinsichtlich Auszahlung ins Ausland teilweise geregelt.

2. Bedeutung für Schweizer Krankenkassen (KVG)

Dank der Verträge:

• können Schweizer Versicherer Behandlungen in der EU abrechnen
• gelten klare Regeln für Kostenerstattung
• wird das Optionsrecht für Grenzgänger koordiniert
• entstehen jährlich über 100’000 Abrechnungen über die EHIC

Häufige Missverständnisse

1. „Bilaterale Verträge bedeuten EU-Beitritt.“
   → falsch, die Schweiz bleibt souverän.
2. „Schweizer Versicherungen decken im Ausland immer gleich.“
   → nur dank bilateralen Regeln in EU/EFTA.
3. „Grenzgänger zahlen doppelte Sozialabgaben.“
   → falsch, die Verträge verhindern dies.
4. „Krankenkasse zahlt überall in der EU 100 %.“
   → lokale Regeln gelten immer.
5. „Ohne bilaterale Verträge wäre alles wie heute.“
   → nein: massive Hürden in Arbeit, Reisen, Gesundheit, Versorgung.

Fazit

Die bilateralen Verträge sind ein zentrales Fundament der Schweizer Wirtschafts-, Gesundheits- und Sozialpolitik. Sie ermöglichen Mobilität, sichern die Versorgung im Gesundheitswesen, erleichtern internationale Versicherungsabläufe und schützen Millionen Menschen vor administrativen und finanziellen Hürden. Ohne diese Verträge wären Gesundheitsversorgung, Arbeitsmarkt und die Attraktivität der Schweiz für Fachkräfte deutlich eingeschränkt. Sie sind damit ein unverzichtbares Instrument moderner Schweizer Politik.

Quellenverzeichnis

• [1] Europapolitischer Bericht des Bundesrats, 2023
• [2] Bundesamt für Statistik – Ausländerstatistik, 2022
• [3] Grenzgänger- und Sozialversicherungsreport Schweiz, 2021
• [4] Gesundheitsversorgung und Mobilitätsanalyse EU/CH, 2020